Weihnachten mit voller Wucht
Weihnachten traf Erich plötzlich und unerwartet mit voller
Wucht. Irgendwie war alles, was im Vorfeld darauf hindeutete an ihm
vorbeigegangen. Es war normal geworden, dass fast ein halbes Jahr lang irgendwelche
Weihnachtsaccessoires verkauft und einschlägige Musik gespielt wurde.
Und jetzt hatte er ein Problem. Die Familie erwartete seine
Anwesenheit. Wenigstens an diesen besonderen Tagen sollte er Zeit für sie
haben. Dabei hatte man sich praktisch schon seit Jahren auseinandergelebt. Er
ärgerte sich. Irgendwie wollte er sich ja auch ein bisschen anpassen. Er hätte
gerne noch ein paar Geschenke besorgt, aber jetzt, am 23. Dezember abends gab
es dafür praktisch keine Chance mehr. Die Adventszeit war viel zu kurz gewesen.
Jedoch fiel dieses Jahr Heiligabend auf einen Sonntag. Praktisch hatte man ihm
eine Woche geklaut.
Marie-Sophie befürchtete das Schlimmste, als Erich bei ihr anrief:
„Ich kann leider nicht kommen. Bleibe lieber in meiner Wohnung in Berlin, da
ich Corona-positiv bin. Ich möchte euch nicht anstecken. Ich wünsche Euch frohe
Weihnachten.“
„Das ist doch die Höhe!“, schimpfte sie. „Das ganze Jahr
über lässt er sich kaum blicken und dann bekommt er – ausgerechnet an
Weihnachten – Corona!“
Dieses Wort verseuchte mittlerweile mehr Menschen und
Gehirne, als die Krankheit selbst. Natürlich war pünktlich zum Fest wieder eine
Welle ausgebrochen. Aber die Reaktion vieler Menschen, alleine auf die
Möglichkeit sich eventuell anzustecken, war noch viel schlimmer. Und jetzt versaute es
ihr Weihnachten. Sie würde sich Gedanken über ihre Ehe mit Erich machen müssen.
So, wie es jetzt war, konnte es nicht weitergehen! Erichs Wunsch „froher
Weihnachten“ – Blanker Hohn. Unverschämter ging es gar nicht! Was, an diesen
Weihnachten, sollte bitte „froh“ sein?!
Unterdessen war Erich froh, dass er sich mit der Notlüge aus
der Klemme herausmanövriert hatte. Marie Sophie würde sauer sein, aber schon
wieder ausschnappen. Dessen war er sich sicher. Die Kehrseite der Medaille war:
Die nächsten Tage würden sehr einsam werden. – Und nicht nur die nächsten Tage!
Denn bei Marie-Sophie hatte er einen Schalter umgelegt. Sie
war die ständigen Demütigungen, die Ausreden, das Warten auf Erich leid. Sie
würde sich von ihm befreien, auch wenn es schwierig werden würde. Sie wusste
nur noch nicht wie.
Jetzt stand aber erst einmal der Heilige Abend bevor. Sie
hatte schon die ganzen letzten Tage damit verbracht, weihnachtliche Atmosphäre
aufkommen zu lassen. Die Kinder Lisa und Anton waren dabei eine große Hilfe.
Sie waren mit Eifer beim Backen und Dekorieren dabei. Sie
hatten sich genauso wie Marie-Sophie auf den Vater gefreut und waren – wieder
einmal – enttäuscht worden.
Die Stimmung bei der Restfamilie Müller war am absoluten
Nullpunkt. Der harmlose Wunsch „Fröhliche Weihnachten“ fühlte sich für alle wie
ein Peitschenhieb mitten ins Gesicht an. Der Abend des Heiligen Abends nahte.
Wie in jedem Jahr, gingen sie auch dieses Mal wieder in den Gottesdienst.
Die Kinderkirche erzählte im Krippenspiel die
Weihnachtsgeschichte nach. Die Nacherzählung war recht modern ausgefallen.
Maria und Josef stammten aus dem Libanon. Der Krieg und die ständige Bedrohung
durch die Hisbollah, hatten ihr Dorf zerstört und sie mussten fliehen. Das war
für die schwangere Maria nicht einfach. Man hatte sich über die Türkei und
Griechenland schließlich bis nach Deutschland durchgekämpft. Jetzt ging es um
die Anerkennung. Alle neu angekommenen Flüchtlinge mussten sich in Heilbronn
registrieren. Die dortige Ausländerbehörde war für ihren Ideenreichtum bei der
Ablehnung von Anträgen bekannt. Aber das ist eine andere Geschichte. Das junge Paar
fand in Heilbronn jedenfalls keine Herberge. Einem Passanten fiel das Paar auf.
Er hatte irgendwie Mitleid und bot ihnen an, in seinem geerbten – eigentlich
baufälligen Haus – in Meimsheim unterzukommen. Es war zwar nicht besonders
komfortabel, aber die Einrichtung war noch da. Wenn auch etwas vermodert.
Irgendwie brachte man den alten Kachelofen in Gang, ein paar
Kerzen mussten als Beleuchtung reichen, und dann überließ der Gastgeber das
Paar sich selbst.
Bei der inzwischen hochschwangeren und äußerst gestressten
Maria setzten jetzt plötzlich die Wehen ein. Josef musste als unfreiwilliger
Geburtshelfer dienen. Irgendwie schafften sie es, das Kind zur Welt zu bringen.
Textilien gab es in dem Haus genug und so konnten sie es warm einpacken.
Unterdessen wurde eine Gruppe Jugendlicher, die sich auf den
Treppen des Sportplatzes traf von einem hellen Licht geflasht. Hey Digga! Was ist
das denn? Noch in die Frage herein erklang die Antwort: „Euch ist heute der
ultimative King geboren. Geht schnell in das alte Haus[i] in der
Schmidgasse. Dort findet ihr Eltern und Kind im Kerzenschein vor einem alten
Kachelofen.“ Danach ertöte der himmlische Rap aus tausend Stimmen: „Jesus, der Heiland
ist heute geboren. Für euch auf der Erde vom Vater erkoren. Er gibt euch Hoffnung
und neuen Mut. Jesus, der Heiland, tut allen gut.“
Sie machten sich auf den Weg, denn weit war es nicht. Schließlich
fanden sie die kleine Familie und auch das Kind. Sie erzählten Maria und Josef,
was für eine gewaltige Show gelaufen war und dass sie hierher kommen sollten.
„Krass! Dieses Kind soll die Welt retten?!“ „Ja, sagte
Maria. Es wird die Werke Gottes tun. Und ihr seid Teil davon.“
Die Gruppe war danach wie ausgewechselt. Nie hatte sie
jemand so ernst genommen, wie die Engel oder Maria. Nie war ihnen klarer, dass das
Leben doch einen Sinn hatte.
Die Müllers waren auch irgendwie berührt. Die Enttäuschung
durch den Vater geriet etwas in den Hintergrund. Die einfache, klare Sprache
und die klaren Ansagen des Krippenspiels ließen sie spüren, dass es heute nicht
auf die eigene Familie ankam, sondern darauf, ein Kind Gottes zu sein. Darauf,
Jesus zu begegnen. Auch im Unscheinbaren. Auch, wenn man selbst die Welt am
Ende sieht oder persönlich am Ende ist. Auch dann, wenn Beziehungen abbrechen.
Es keimte so etwas wie Hoffnung ich ihnen auf. Hoffnung,
dass Jesus ihnen begegnen würde. Und das war das Wichtigste an Weihnachten.
Die Weihnachtsbotschaft hatte die Restfamilie Müller mit
voller Wucht getroffen.
[i] Das ist ein fiktives und kein reales Haus
© Christian-M. Kleinau Dezember 23 – Unentgeltliche, unveränderte Weitergabe unter Angabe des Copyrights erlaubt –
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